Nach den ersten Wochen auf Bali war klar: Diese Insel fordert uns heraus.
Wir hatten schon viel erlebt – Stille und Lärm, Schönheit und Schatten, Begeisterung und Enttäuschung. Kaum ein Ort hat uns emotional so gefordert.
Unsere Zeit in Kedungu, einem kleinen Dorf nahe Tanah Lot, war geprägt von dieser Ambivalenz. Die Villa, die wir dort gemietet hatten, war wunderschön: modern, geschmackvoll eingerichtet, mit großem Garten, tropischen Pflanzen und einem herrlichen Pool. Ein Ort, an dem man zur Ruhe kommen könnte – wenn da nicht der Baulärm gewesen wäre.
Der versprochene Blick auf Reisfelder entpuppte sich als Blick auf eine große Baustelle. Schon früh am Morgen begannen die Maschinen zu dröhnen, Staub lag in der Luft, die Gespräche der Arbeiter mischten sich mit dem Summen der Bohrmaschinen.
Von Sonnenaufgang bis spät am Nachmittag wurden wir beschallt. Und so verbrachten wir unsere Tage in einem merkwürdigen Schwebezustand – zwischen Paradies und Baustelle, Schönheit und Lärm.
Trotzdem hatten wir dort auch gute Tage. Unser Fahrer Depa, immer gut gelaunt und mit einem Lächeln im Gesicht, begleitete uns auf unseren Ausflügen.
Wir besuchten Tempel, badeten unter Wasserfällen und standen staunend inmitten der berühmten Jatiluwih-Reisterrassen, einem UNESCO-Weltkulturerbe. Es war, als würde die Landschaft selbst atmen. Grün in allen Nuancen, harmonisch abgestuft, von Wasseradern durchzogen.
Doch je näher wir den touristischen Orten kamen, desto deutlicher wurde auch: Bali ringt mit sich selbt. Überall wird gebaut, überall entsteht Neues – oft auf Kosten des Alten. Traditionelles wird verdrängt, Straßen verstopfen, Dörfer werden zerschnitten von Baustraßen. Nach einer knappen Woche wussten wir: Wir müssen weiter suchen nach dem echten Bali.
Unser Vermieter in Kedungu war verständnisvoll und bot uns an, den Transfer in die nächste Unterkunft als Entschädigung kostenlos zu übernehmen. Pünktlich stand der Van vor der Tür – diesmal mit einer Fahrerin, was auf Bali eher selten ist.
Doch schon die erste Kreuzung wurde zur Prüfung. Sie verpasste die Abzweigung, legte den Rückwärtsgang ein – und mit einem lauten Krachen landete die Hinterachse im Straßengraben. Also: alle raus aus dem Wagen. Ein paar Männer aus der Nachbarschaft eilten sofort herbei, halfen und schoben – und nach ein paar Minuten war das Auto wieder frei.
Unsere Fahrerin wirkte aufgewühlt. Sie griff zu ihrem Handy, öffnete eine App und spielte ein balinesisches Gebetsmantra in voller Lautstärke ab. Das sollte offenbar dem Schutz der Weiterfahrt dienen. Und tatsächlich: Die restliche Fahrt verlief ruhig und sicher – als hätte das Mantra tatsächlich alle bösen Geister besänftigt.
Nach einer Stunde erreichten wir unsere neue Unterkunft – und atmeten auf.
Vor uns lag eine wunderschöne und nagelneue Villa, bestehend aus drei Gebäuden, die sich U-förmig um einen kleinen Pool gruppierten. In der Mitte das Hauptwohngebäude mit drei Schlafzimmern, dann ein weiteres Wohngebäude und ein offenes Gebäude mit Küche, Esstisch und Sofa. Alles luftig, geschmackvoll, eingebettet in tropisches Grün.
In der Nähe gab es ein paar kleine Reisfelder, einen Fluss, der sich durch ein tief eingeschnittenes Tal schlängelt, Palmen und den Gesang der Vögel. Keine Baustelle, kein Lärm. Nur Ruhe (- bis auf einen traditionellen Holzkünstler, der seine Blöcke mit der Kettensäge vorbereitete und in den späten Abendstunden mit seinen Freunden sang...)
Wir fühlten uns sofort wohl und beschlossen, unseren Aufenthalt zu verlängern. Doch leider war die Villa nach vier Nächten schon wieder ausgebucht – ein kleiner Stich ins Herz, denn dieser Ort fühlte sich endlich richtig an. Wir genossen jeden Moment dort: Frühstück am Pool, Abkühlung im Pool, ab zu ein Ausflug und abends entspanntes Beisammensein, während draußen die Grillen zirpten.
Hier hätten wir bleiben können. Vielleicht sogar länger als geplant. Doch das Schicksal hatte anderes vor.
Die nächste Unterkunft – nur sechs Kilometer entfernt – klang auf den ersten Blick vielversprechend: ein kleines Haus mit Pool, direkt am Reisfeld. Perfekt für den Übergang, dachten wir. Doch der Transfer, kaum ein paar Kilometer, dauerte fast eine Stunde – verstopfte Straßen, chaotischer Verkehr, Umleitungen wegen Baustellen.
Und als wir endlich ankamen, waren wir schnell ernüchtert. Eigentlich lag das Haus wirklich schön, am Rande eines Reisfelds. Doch auch hier war natürlich wieder eine Baustelle nebenan, die Nachbarn auf der anderen Seite verbrannten ununterbrochen Gartenabfälle. Das Haus selbst war alt, nicht wirklich sauber, die Türen schlossen nicht richtig. Wir machten uns einen Tee, bestellten etwas zu essen, versuchten, die Atmosphäre auf uns wirken zu lassen.
Dann raschelte es. Eine Ratte huschte direkt vor unseren Augen quer durchs Wohnzimmer. Kurz darauf entdeckten wir eine zweite – im Abfluss der Badewanne.
Das war der Moment, in dem wir wussten: Wir müssen hier weg.
Nach einigen Mails, Chats und Anrufen bekamen wir unser Geld für die Buchung zurück. Doch ein Problem blieb: Woher bekommen wir so schnell eine neue Unterkunft. Wir hatten eigentlich keine Lust, schon wieder stundenlang nach ewas Passendem zu suchen. Die Stimmung war auf dem Tiefpunkt, doch schließlich fanden wir eine neue Villa – weiter im Norden, abseits des Trubels. Die Fotos sahen wunderschön aus, aber nach allem, was wir erlebt hatten, war unsere Erwartungshaltung gedämpft.
Also packten wir erneut unsere Sachen, bestellten einen Gojek-Fahrer und machten uns auf den einstündigen Weg nach Norden.
Mit jedem Kilometer, den wir aus dem dicht besiedelten Ubud herausfuhren, veränderte sich die Landschaft. Die Luft wurde klarer, die Dörfer wirkten friedlicher. Der Verkehr wurde weniger. Und dann standen wir vor dem Tor unserer neuen Unterkunft – und trauten unseren Augen nicht.
Eine Traumvilla.
Vier separate Gebäude in einem wundervollen Garten mit Palmen, verbunden durch Steinwege, ein offener Wohn- und Essbereich, umgeben von tropischen Pflanzen rahmten einen gewaltigen Infinity-Pool, der scheinbar direkt in die grünen Reisfelder überging. Am Horizont zeichneten sich die Vulkane Balis ab, eingehüllt in leichten Nebel. Wir konnten unser Glück kaum fassen. Wo ist der Haken? - Doch es zeigte sich: es gab keinen!
Hier war Bali still. Echt. Friedlich. Und wir wussten: Endlich angekommen.
Made, unser Vermieter, begrüßte uns mit einem strahlenden Lächeln und brachte uns ein Begrüßungsgetränk. Sein Lachen war warm, sein Wesen ruhig. Er bot an, am Abend für uns zu kochen – und während wir im Pool schwammen, bereitete sein Team ein balinesisches Abendessen für uns zu. Einfach aber gut: Reis und Nudeln, Gemüse, Hähnchen.
Wir aßen an dem großen Massivholzesstisch, während die Sonne langsam hinter den Reisfeldern versank. Ein Blick wie aus einem Bildband über Bali. Es fühlte sich an wie eine Einladung – von Bali selbst.
Doch in dieser ersten Nacht rüttelte uns die Insel buchstäblich wach.
Ein Erdbeben! Erst ein leises Grollen, dann Vibrationen – und plötzlich bebte der Boden unter uns, und Türen und Fenster klapperten. Nach einer Minute war es vorbei. Glücklicherweise gab es keine Schäden, nur ganz viel Adrenalin und ein pochendes Herzklopfen.
Aber seltsamerweise fühlte es sich nicht beängstigend an. Im Gegenteil – fast reinigend. Als hätte Bali uns sagen wollen: Ich bin lebendig. Ich bin nicht glatt, nicht bequem, nicht perfekt – aber ich bin echt.
Dieses Erdbeben wurde für uns zu einem Symbol. Es rüttelte nicht nur die Erde, sondern auch unser bisher eher negatives Bild von Bali zurecht.
Und auch das Bild, das Made von uns hatte, wurde zurechtgerückt: Er hatte uns zunächst als gewöhnliche Touristen betrachtet und erzählte uns von kitschigen Bali-Swings und den üblichen Touristenhotspots, zu denen er uns fahren würde. Doch schnell merkte er, dass wir nach etwas ganz anderem auf unserer Reise suchten: Wir sammeln echte Erlebnisse und Erfahrungen abseits der ausgetretenen Pfade des Massentourismus.
In den folgenden Tagen führten wir viele sehr tiefgründige Gespräche mit Made, die uns nachdenklich machten und uns endlich die Kultur Balis verstehen ließen. Er erzählte uns von der Tri Hita Karana, der zentralen Lebensphilosophie der Balinesen. Sie beschreibt die drei harmonischen Beziehungen, die das Glück des Menschen bestimmen:
Nur wenn alle drei im Gleichgewicht sind, so glauben die Balinesen, kann Frieden und Wohlstand entstehen.
Made sprach mit einer Selbstverständlichkeit darüber, die uns berührte. Er lebte diese Werte. Und plötzlich verstanden wir so vieles: den Respekt, die Freundlichkeit, die tiefe Spiritualität, die selbst in den einfachsten Gesten spürbar ist.
Besonders eindrucksvoll war unsere Begegnung mit Munan, Mades Frau. Sie war ursprünglich gekommen, um Irene eine Yoga-Stunde zu geben – doch es wurde ein Abend, der uns lange in Erinnerung bleiben wird.
Munan lud uns zu einer Sound-Healing-Session ein. Obwohl es zunächst befremdlich klang, ließen wir uns darauf ein. Nach einer tiefen gemeinsamen Meditation erfüllte sie den Raum mit Gongs und Klangschalen. Die Töne schienen durch uns hindurchzugehen, jede Zelle zu berühren. Es ging um Schwingung – um das Lauschen nach innen.
Nach der Session sprachen wir über innere Balance, die Energie des Atems, über das Loslassen. Über die Frage: Wer bin ich – und wie kann ich im Einklang mit allem um mich herum leben?
Diese Begegnung veränderte etwas in uns. Sie machte uns still – auf eine gute Weise.
Ein weiterer Abend war den Canang Sari gewidmet, den kleinen Opfergaben, die wir bereits so oft auf Bali gesehen hatten – auf Straßen, in Tempeln und Schreinen, sogar in Autos.
Munan zeigte uns, wie man sie herstellt: kleine Schälchen aus Palmblättern, zusammengenäht mit Bambus, gefüllt mit Blüten.
Das Canang ist mehr als ein religiöses Ritual. Es ist ein täglicher Akt der Dankbarkeit – eine Manifestation des eigenen Selbst, das man den Göttern darbietet und um inneren und äußeren Frieden bittet.
Jede Blüte steht für eine Tätigkeit im Tagesablauf, jede Farbe für ein Element und die Gottheiten Shiva, Brahma und Vishnu. Das Canang erinnert daran, dass alles miteinander verbunden ist – Mensch, Natur und das Göttliche, sowie Werden, Vergehen und Neuschöpfung.
Diese schlichte, poetische Form der Achtsamkeit hat uns tief berührt.
Munan hatte uns noch empfohlen, das benachbarte Dorf Delodsema zu besuchen, in dem das ursprüngliche Bali noch sichtbar ist. Wir unternahmen also die wunderschöne Wanderung dorthin: durch den Dschungel, danach durch Reisfelder - und fanden ein traditionelles Dorf mit den typischen Häusern und Hausaltären hinter kunstvoll verzierten Eingangstüren vor.
Ein ganz besonderer Ort ist das Flusstal Semara Ratih, das sich hinter dem Dorf erstreckt. Dort fließen zwei Quellen ineinander, die in der balinesischen Tradition das männliche (Semara) und das weibliche Prinzip (Ratih) verkörpern.
Die Quellen werden durch zwei Bambusröhren zueinander geleitet, die von einer männlichen und einer weiblichen Statue gehalten werden, die vom Dschungel überwuchert sind. Ein mystischer Ort, an dem wir ganz alleine waren.
Bali hat uns geprüft, irritiert, manchmal enttäuscht und sogar schockiert. Aber jetzt, hier in unserer Villa in Taro, inmitten der Reisfelder, mit Blick auf die Vulkane und den offenen Himmel, verstehen wir:
Diese Insel gibt nichts leichtfertig her. Man muss sich ihr öffnen. Man muss bereit sein, sich von ihr verändern zu lassen.
Vielleicht war die „Rattenvilla“ die notwendige Erfahrung, die uns hierher geführt hat – nach Taro, zu Made und Munan, zu Klang, Stille und Spiritualität.
Hier haben wir gelernt, was Bali wirklich ist: kein Sehnsuchtsort für perfekte Bilder auf kitschigen Schaukeln, sondern ein lebendiger Organismus – wild, fordernd, wunderschön.
Und während wir den letzten Abend in Taro ausklingen lassen, denken wir: Bali, du hast uns durch- und aufgerüttelt, gefordert, beschenkt – und schließlich versöhnt. - Wir sind gespannt, was du noch für uns bereithältst.